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News 1:18 Norev Mercedes 200 W123 Agavengrün

Der Gipfel herrlichster Spießigkeit

Seinen wunderschönen Mercedes W123 bringt Norev nun in der spießigst denkbaren Farbe, Agavengrün. Nicht im Fachhandel erhältlich, sondern nur im Mercedes-Accessoireshop. Eine herrlich zeitgenössische Farbe, die einen herrlich zeitgenössischen Käufertyp repräsentiert, der heute praktisch ausgestorben ist.

Er spielt im Reihenhaus-Milieu der frühen 80er, zwischen Einbauküche, Sitzgarnitur, Kleingartenanlage und muffiger Beamten-Schreibstube, als Wetten, dass…? noch von Frank Elstner und Verstehen Sie Spaß? von Kurt Felix und Paola moderiert wurde, als gesellschaftliche Normen nicht in Frage gestellt wurden, als Opportunismus in kleinbürgerlichen Kreisen noch als Tugend galt. Und doch träumte der Philister (oder eben: der Spießer) vom sozialen Aufstieg, nicht nur für seine Kinder, sondern auch für sich selbst. Er träumte vom Mercedes, um zu den für ihn eigentlich unerreichbaren Kreisen zu gehören, die Mercedes fuhren. 1980, da wusste man zwar schon vom kommenden Baby-Benz, dem W201, und groß war etwas später die Enttäuschung, dass er letztlich doch nicht preiswerter war als der bisherige, kleinste Mercedes. Als 1979 der billigste 200er die magische 20.000-D-Mark-Grenze überschritten hatte, hielten ihn viele potenzielle Kunden für unerreichbar, weil sie sich ihr Lebtag nicht hatten vorstellen können, je ein Auto für über 20.000 DM zu kaufen. Der Mercedes 200 war im Herbst 1982 bei 25.800 DM angekommen, und im Dezember, als die 190er-Preise bekannt gegeben wurden, war der billigste 190er gerade mal 200 DM günstiger. Ohne Servolenkung. Mit Servolenkung war er teurer als ein 200er, der die Servolenkung mittlerweile serienmäßig trug.

Kurz vor der Rente, das Reihenhaus abgezahlt, gönnte sich der Kleinbürger einen 200er, einen Mercedes W123. Dann war auch er Mercedes-Fahrer. Und Mercedes-Eigentümer. Denn Anfang der 80er Jahre zahlte man ein Auto noch bar, da wurde nicht geleast, und da nahm man auch keinen Bankkredit auf – schon gar nicht der Philister, der großen Respekt vor dem Bankangestellten mit Krawatte hatte. Angesichts dieser großen Anschaffung, des über 20.000 D-Mark teuren Mercedes 200, wurde an Extras gespart. Er wurde geschaltet und eine Metalliclackierung musste auch nicht unbedingt sein. Die angesagte Farbe war ein Unilack, oftmals hell und unscheinbar. Wer aber einen Hang zum Grünen hatte (nicht politisch, Gott bewahre! Eher im Sinne des Schrebergartens), der wählte gerne Agavengrün 880, einen Farbton, der zwischen 1979 und 1981 die Mercedes-Palette schmückte. Diese Farbe passte zum Kleinbürger, war so klein und bürgerlich wie er selbst. Viele Mercedes 200 fuhren damals in Agavengrün herum, innen entweder mit hellem, dattelfarbenen MB-Tex ausgestattet oder, wie im neuen Norev-Modell, in dunklem Braun des typischen Taxis. Und heraus guckte, furchtbar stolz und wohl behütet, der kleine Mann, der sich darin ganz groß fühlte: „Seht Ihr mich auch alle? Ich in meinem Mercedes…!“

Kaum ein Mercedes-Farbton dieser Zeit wird so sehr mit Nullausstattungs-Bauerndiesel assoziiert wie dieser. Gerne wird auch der Terminus „Buchhalterausstattung“ verwendet, wenn man sich über einen agavengrünen W123er lustig machen möchte. Dabei gibt es hierbei nichts zu lachen. Das Auto ist zeittypisch, milieutypisch und heute ein Zeitzeuge der „Vorwendezeit“ – aber in anderem als dem aktuell gebräuchlichen Sinn. Als „Wende“ wurde vor der 1989er Systemwende jene Wende begriffen, die den Regierungswechsel 1982 bezeichnet, das Ende der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt, hin zur CDU-FDP-Koalition unter Helmut Kohl. Der agavengrüne W123 steht für den emporgekommenen SPD-Wähler vor der Wende, den Bausparer mit einem schwarzen Pudel, Kurzarmhemd unter Pollunder, Heino-Platten und Eierlikör im Barfach seiner Schrankwand. Und Cordhose! Und Wackeldackel auf der Hutablage! Die Agave gehört übrigens zu den Spargelgewächsen und ist nicht, wie vielfach angenommen, ein Kaktus. Daimler-Benz hat da wohl auch etwas verwechselt und verwendete als englische Bezeichnung der Farbe „Cactus Green“. Macht nichts. Daimler-Benz kennt sich mit Autos aus, nicht mit Botanik.

Im Sommer 2020 erschien der W123 von Norev, erst als Limousine, kurz darauf als T-Modell, später folgten die AMG-Version und Sondermodelle à la Taxi und Polizei. Ein rundum gelungenes Modellauto, sattsam bekannt, all open, gefedert und gelenkt, das seither in etlichen Farben erschienen ist, sowohl im Fachhandelsprogramm als auch via Daimler-Benz-Accessoirelinie. Genau dort, beim Mercedes-Händler, gibt es auch den Agavengrünen. Ausgeliefert wird er von Norev an Daimler-Benz in den nächsten Tagen. Dann dauert es erfahrungsgemäß rund acht Wochen, bis Mercedes ihn als lieferbar listet. Weil in rund acht Wochen aber Oh Tannenbaum ist und das Arbeitsleben still steht, dürfte der Spießer-Mercedes wohl Anfang kommenden Jahres verfügbar sein.

afs

Wie keine andere Farbe steht Agavengrün beim W123 für den Prototyp des nach sozialem Aufstieg strebenden Kleinbürgers aus der Vorstadtsiedlung. Aber es gab auch eine andere Klientel dafür, und die musste weniger eisern darauf sparen: Der Bauer votierte auch gerne für den agavengrünen 200 Diesel und gönnte sich als einziges Extra eine Anhängekupplung für seinen Viehtransporter.
Modellfotos: bat
Agavengrün, Hufeisen am Grill, Kaiser-Wilhelm-Gedächtnispflaster in Berlin. Und der Schlüssel steckt im Türschloss.
Foto: Archiv afs

Steckbrief:

Norev B6 604 0721 (Mercedes-Bestellnummer) Mercedes 200 W123 1980 agavengrün. Fertigmodell Zinkdruckguss, Maßstab 1:18. UVP bei Mercedes 120 Euro.