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News 1:87 Herpa Mercedes S-Klasse V223 2020

Parallelgesellschaft

S-Klassen sind längst keine Privatfahrzeuge mehr – und wenn, dann nur in Ausnahmen. Geschäftswagen werden in dezenten Farben geordert, auch, um als Leasingrückläufer möglichst viel Geld zu bringen. Herpa bringt seine aktuelle S-Klasse nun in schmuckem Patagonienrotmetallic, einer auffälligen und heraus stechenden Farbe. Garantiert nicht geleast.

Wer seine S-Klasse in der Manufactur-Lackierung Patagonienrotmetallic 997 ordert, macht sich keine Gedanken um den Wiederverkaufswert. Er kauft, was ihm gefällt. Die Mehrheit votiert für das übliche Silberanthrazitschwarz, die S-Klasse soll dezent sein, eben nicht auffallen, weil man sich in unseren Breitengraden des Wohlstands zwar nicht schämt, ihn aber ungerne präsentiert. In anderen Kulturkreisen ist das anders. Da sind Sonderfarben, grelle Farben, auffallende Farben gefragt. In China zeigt man, wer man ist und was man hat. In den USA auch, In Russland auch. Und überhaupt in Asien. In Deutschland oder Westeuropa dürfte Patagonienrotmetallic auf der S-Klasse eine absolute Ausnahme sein. Herpa bringt seinen bekannten Mercedes V223 nun in vierter Farbvariante in dieser Lackierung. Und das sieht scharf aus!

Das Modell ist seit gut vier Jahren bekannt, die Lackierung ist brillant und hauchdünn aufgebracht, die Alus mit ihren unzähligen Streben sind ein modellbauerischer Traum, die Bedruckung der Karosserie absolut akkurat. Vielleicht wäre Hellbeige als Innenraumfarbe noch adäquater gewesen für den Patagonienroten, aber er ist nun einmal innen schwarz.

Die S-Klassen W223 und V297

Zwei höchst unterschiedliche S-Klassen, die parallel produziert werden. Das gab es bisher noch nie. Zwar überschnitten sich manchmal die Produktionszeiträume von Vorgänger und Nachfolger, aber beim W223 ist das anders. Da gibt es zunächst ihn, den W223, als S-Klasse im üblichen Sinne und gleichzeitig den Mercedes EQS, die vollelektrische Variante. Mercedes geht in Sachen Elektromobilität einen anderen Weg als beispielsweise BMW. Dort sieht „The 7“, also der Siebener, als Elektriker und als Verbrenner weitgehend gleich aus, und beide sind im Grunde die gleichen Autos. Mercedes fährt doppelgleisig, die S-Klasse und der EQS als unabhängig voneinander konstruierte Fahrzeuge in der gleichen Klasse, auch optisch mit völlig eigenständiger Identität. Beide Vorgehensweisen haben wahrscheinlich ebenso viele Vor- wie Nachteile, und welche sich letztlich durchsetzen wird, ist Daimler-intern bereits entschieden: weg von der Doppelstrategie, keine Parallelgesellschaften mehr.

Der W223 erschien im September 2020, der Mercedes-Maybach im Mai 2021, die AMG-Version im Dezember des Jahres, und schon zuvor, im April 2021, wurde der EQS (Baumustercode V297) präsentiert. Weiterhin gibt es eine Guard-Version, aber keinen Pullman mehr. Wie üblich, bietet Daimler-Benz eine normallange S-Klasse (W223) sowie eine etwas verlängerte Version (V223, das Herpa-Modell) an. Das Design stammt vom Ungarn Balázs Filczer und Chefdesigner Gorden Wagener.

Mit zahlreichen Neuerungen technischer und elektronischer Natur, großen und kleinen, unterstrich Daimler-Benz seine herausragende Stellung in Sachen Luxuslimousinen. Zu den eher kleinen Nettigkeiten gehören beispielsweise die optional erhältlichen, versenkten Türgriffe (weist das Herpa-Modell auf). Sie sind bündig in die Karosserie integriert, aus aerodynamischen und optischen Gründen, und fahren aus, sobald sich der Fahrer dem Auto nähert (von Tesla kennt man das allerdings schon lange). Mehr Aufmerksamkeit erzielt die Allradlenkung, bei der S-Klasse eine Option, im Maybach serienmäßig. Die Lenkung mit allen Vieren ist eine uralte Erfindung. Man braucht kein Physiker zu sein, um zu begreifen, dass der Wendekreis geringer ist, wenn sich die Hinterräder am Richtungswechsel beteiligen und nicht nur nervös nach vorne schieben. Kurioserweise hat sich die Allradlenkung bei Straßenfahrzeugen kaum durchgesetzt. Denn sie ändert das Fahrverhalten gewaltig, auch die Anforderungen an den Fahrer. In gewisser Weise muss man das Fahren mit einem allradgelenkten Auto neu lernen. Das erste Großserien-Straßenauto mit Allradlenkung (nicht zum Manövrieren, sondern im Sinne der Fahrstabilität in Kurven) war 1987 der Honda Prelude, und speziell den japanischen Herstellern gefiel die Idee. Seit ungefähr 15 Jahren interessieren sich auch die Europäer dafür. Die aktuelle Mercedes S-Klasse W223 und der auf ihr basierende Maybach haben nun ebenfalls Allradlenkung. Bis zu Tempo 60 und einem Winkel bis zu 10 ° (optional 4,5 °) lenken die Hinterräder entgegengesetzt zu den Vorderrädern (das dient dem Rangieren und Manövrieren), darüber hinaus lenken sie in die gleiche Richtung wie die Vorderräder und unterstützen sie dadurch fahraktiv.

Natürlich wurden auch die Assistenzsysteme optimiert. Das Digital Light warnt vor Gegenständen oder Personen vor dem Wagen, ein aktiver Lenk-Assistent zwingt das Auto, bei einem Autobahnstau eine Rettungsgasse freizuhalten. Und dann kam die aktuelle S-Klasse dem autonomen Fahren so nahe wie kaum ein anderer Wagen: Autonomiestufe 3 im Autobahnstau bis Tempo 60, einsetzbar auf jenen Autobahnabschnitten, die dafür frei gegeben sind – aber nur bei Tag, trockenem Wetter, Plusgraden, nicht in Tunneln und Baustellen, Spurwechsel tätigt der Autopilot nicht, und er muss ein vorausfahrendes Fahrzeug erkennen. Um all die Elektronik im Griff zu haben, blickt der Fahrer auf einen bis zu 12,8 cm großen Monitor. Und er kann mit seiner S-Klasse sprechen. Die Sprachsteuerung wird aktiviert, wenn er deutlich „Hey, Mercedes!“ sagt, und dann können beispielsweise der Radiosender gewechselt oder das Innenraumklima verändert werden. Auch Künstliche Intelligenz kommt zum Zuge, noch in überschaubarem Maße, aber immerhin überwachen vier Kameras im Innenraum die Fahrgäste und sollen ihre Wünsche künstlich erkennen. Das System heißt MBUX, was für Mercedes-Benz User Experience steht und ist auch für den EQS lieferbar.

Anfangs gab es die S-Klasse nur mit Mild-Hybrid-Ottomotoren, nämlich den S 450 4Matic mit 3-Liter-Sechszylinder-Reihenmotor, 367 plus 22 PS stark, sowie als S 500 4Matic mit dem gleichen Motor, aber 435/449 plus 22 PS. Der V8-Benziner (4-Liter-Biturbo-V8, 503 plus 20 PS) kam erst im Mai 2021. Die Plug-in-Hybride folgten später: S 580e ab Sommer 2021, 3-Liter-Sechszylinder-Reihenmotor mit 510 PS, und ab Mai 2022 der S 450e mit 408 PS. Die absolute Ausnahmestellung nimmt der AMG S 63 E Performance ein, ein 4-Liter-Biturbo-V8 mit 612 PS plus einem 190-PS-Elektromotor, was in 802 PS Systemleistung kulminiert. Von Anfang an dabei waren Dieselversionen, lauter Reihensechszylinder: im S 350 d ein Dreiliter mit 286 PS oder, als Mildhybrid, mit 313 plus 23 PS sowie im S 400 d mit 330 PS und im S 450 d 4Matic mit 367 plus 23 PS. Die Motorisierung sieht man der S-Klasse nicht an. Einen Heckschriftzug trägt ohnehin kaum mehr ein großer Mercedes. Die S-Klasse hat keinen V12-Motor mehr, dieser ist dem Maybach vorbehalten.

Weder Wonder noch Hit. Aber immerhin One

Die Modellpflege wird für das Modelljahr 2026 vorgestellt, die S-Klasse W223 dürfte bis zum Jahr 2030 gebaut werden. Danach wird es weiterhin eine Verbrenner-S-Klasse und auf ihrer Basis einen Maybach geben sowie, parallel dazu, eine Elektro-S-Klasse. Die derzeitige Elektro-S-Klasse, der V297, wird ein One-Hit-Wonder bleiben, wobei sowohl das Wort „Hit“ als auch „Wonder“ in Frage gestellt werden dürfen.

Daimler-Benz entschied sich, der stromernden S-Klasse eine komplett neue optische Identität zu verleihen, eine Art „One Box Design“ mit bogenförmiger Silhouette, bei der die Übergänge von vorderer Haube zu Fahrgastraum und weiter zum Heckabschluss fließend verlaufen. Gorden Wagener nennt das „Seamless Design“ (seamless = nahtlos). Vorne hat der EQS ein Leuchtband, welches die Scheinwerfer verbindet, und darunter eine eher freundlich lachend wirkende Grillattrappe mit dreidimensionalem Stern-Muster, darunter grimmige Lufteinlässe. Die rahmenlosen Türen und überhaupt die Profilansicht erinnert ein wenig an den seligen Citroën C6. Auch hinten ein Leuchtband, das ist das Mercedes-EQ-Erkennungszeichen, und eine große Heckklappe.

Ein EQS-Mercedes sieht also nicht aus wie ein klassischer Mercedes. Das befremdet viele potenzielle, eher konservativ eingestellte Käufer erst mal, weil schlichtweg die heilige Dreifaltigkeit des Automobildesigns von Motorraum, Fahrgastraum und Kofferraum perdu ist. Daimler-Benz vertrat die Ansicht, ein Elektrofahrzeug sei kein Derivat und schon gar keine Weiterentwicklung eines üblichen Verbrenners, sondern eine komplett andere Form der Mobilität, was sich auch optisch in futuristischem Design zu manifestieren hat. Immerhin basiert der EQS auf einer völlig eigenen und nur für ihn konstruierten Struktur. Es gibt keine zwei Radstandsvarianten wie bei der konventionellen S-Klasse.

Daimler-Benz war sehr stolz auf den EQS und wollte den unangreifbaren S-Klasse-Nimbus in die Elektromobilität transferieren. Ola Källenius sah die Daimler-Benz-Zukunft ausschließlich elektrisch. Letztendlich lautete die Absicht, der EQS solle die S-Klasse langfristig beerben. Aber zunehmend folgte Ernüchterung. Die Verkaufszahlen blieben deutlich hinter den Erwartungen zurück. Daimler-Benz muss auf Neuwagen Nachlässe gewähren und gebrauchte EQS, meistens Leasing-Rückläufer, finden nicht genügend Abnehmer. Die alltagsempirische Evidenz deutet ebenfalls darauf hin: Auf der Straße begegnen dem autoaffinen Betrachter mehr aktuelle S-Klassen als EQS. Der EQS hat ein Restwert-Problem, also eine zu geringe Wertstabilität – das ist für einen Wagen im S-Klasse-Format schlimm! Laut einem Interview, das Ola Källenius dem englischen Magazin Autocar gab, wird der EQS mit Vorstellung der kommenden S-Klasse ersatzlos gestrichen. Daimler-Benz hat eingesehen, dass die zwei-Modell-Politik in derselben Fahrzeugklasse ineffektiv ist und wird die kommende S-Klasse als Verbrenner und als Elektrofahrzeug anbieten, optisch sehr ähnlich, wenngleich auf einer unterschiedlichen Plattform basierend (also so, wie es BMW mit „The 7“ macht). Immerhin räumt Källenius ein, die Designstrategie sei gescheitert und zukünftig solle ein Mercedes wieder wie ein Mercedes aussehen. So zweigleisig wie Daimler-Benz fährt übrigens auch Herpa. Hier gibt es die verlängerte Verbrenner-S-Klasse V223 ebenso wie die Elektro-EQS V297.

afs

Herpa kann schlichtweg moderne Personenwagen machen, besser als viele andere. Die Verarbeitungsqualität ist spitze, die Konstruktion einwandfrei. Alleine der winzige Fotoätz-Stern auf der Vorderhaube ist eine Schau.
Modellfotos: bat
Wesentlich unspektakulärer als so mancher seiner Vorgänger, von der Größe und dem Grill abgesehen fast schon diskret, auf jeden Fall nicht protzig. Die großen Leuchten und der üppige Grill sind den asiatischen Ansprüchen geschuldet. In Deutschland zugelassene Mercedes V223 sind zumeist nicht in Patagonienrot Metallic lackiert, sondern im standardisierten Schwarz-Weiß mit sämtlichen Grautönen dazwischen.
Foto: Alexander Migl

Steckbrief:

Herpa 430869-004 Mercedes S-Klasse V223 2020 Patagonienrot. Fertigmodell Kunststoff, Maßstab 1:87. UVP 21,95 Euro.