Golinski, Veit und Barbara Eismann: Kleine Autos, große Welt. Berlin (Delius Fine Books) 2024. 192 Seiten, über 170 Abbildungen. ISBN 978-3-949827–01-3. Preis 49,95 Euro.
Ein Buch, verpackt wie ein Corgi-Miniaturauto aus den 60ern, die Umverpackung in gelb-blau in der typischen ein-Drittel/Zwei-Drittel-Aufteilung, und auf dem Splash, auf den Corgi Toys seinerzeit „On special request“ schrieb, positioniert Delius Fine Books den Buchtitel „Kleine Autos, große Welt“. Dieses Buch muss man also auspacken wie ein Corgi-Modell aus den Goldenen Zeiten. Heraus schält sich ein in der Türkei gedrucktes Buch in sympathischem Querformat, ein wenig auf Alt gemacht (der Verlag spricht von „zeitgenössischem Vintage-Design“) mit Fadenbindung (wie früher), mit Lesezeichen (wie früher), türkisfarbenem Leseband (wie früher), wertiges, mattgestrichenes 200-Gramm-Papier (wie früher), dazu ein Leinengewebeeinband (wie früher), der den Eindruck vermittelt, das Buch sei nicht maschinell, sondern vom Buchbinder von Hand gebunden worden. Ist es natürlich nicht, aber diese Illusion gehört zur nostalgischen Zeitreise, 60 Jahre zurück, in die Zeit, als die 1:43-Spielzeugautos am schönsten, konstruktiv am ausgefeiltesten waren – als es einfach Spaß machte, ein Bub zu sein und mit Corgis und Dinkys und deren internationalen Artgenossen zu spielen. Dieses Buch richtet sich, der Machart und dem Inhalt nach, an die Generation der zwischen 1955 und 1965 Geborenen. Sie treffen „ihre“ Spielzeugautos wieder. Und sie sehen sie, wie sie sie noch nie gesehen haben. Genau das ist das Verdienst von Barbara Eismann, welche fotografierte. Von Veit Golinski stammen die Miniaturautos, er ist der Sammler. Er schrieb auch die Texte, und die sind sehr unterhaltsam.
Der Hauptteil des Buches, 156 Seiten von 192, besteht aus einem illusionären Diorama auf der ungeraden Seitenzahl und einer Kurzbeschreibung dieses Dioramas auf der geraden. Die rund 100 Dioramen sind stets gleich aufgebaut: Im Vordergrund das Miniaturauto, geschmückt teilweise mit Accessoires und nahezu immer mit maßstäblich passenden Figürchen. Dahinter eine zeitgenössische Postkarte. Diese beiden Welten, das Auto mitsamt seinem Zubehör sowie die Hintergrundpostkarte, vermag Fotografin Barbara Eismann ineinander verschmelzen zu lassen, sodass es den Anschein einer kohärenten Szenerie hat. Sie gaukelt überzeugend eine tiefenräumliche Wirkung vor, eine authentische Kulisse – dabei ist es nichts, als eine perfekt inszenierte Illusion, und das weckt Bewunderung vor der fotografischen Arbeit und vermittelt nostalgische Emotionen beim Betrachten. Die linksseitigen Texte erläutern mal das Foto selbst, das schon durch die Textüberschrift à la „Doppeltes Wahrzeichen: Ein Mercedes 300 SL Roadster vor dem Münchner Hauptbahnhof“ charakterisiert ist, mal das Vorbild des gezeigten Fahrzeugs, mal beides. Die Texte sind kurz, prägnant, professionell (Golinski hat Geisteswissenschaften studiert), auch unterhaltsam und phantasievoll. Ohne Golinski zu nahe treten zu wollen: Die Fotos sind so faszinierend, dass der Charakter des Bildbandes überwiegt, die Bilder bannen den Blick des Betrachters, der Leser muss nicht lesen. Natürlich hilft die Überschrift, denn der Betrachter sieht der Postkartenszene nicht an, dass sie die Whitby Road in Ellesmere Port darstellt. Aber mit diesem Initialwissen ausgestattet, verfängt das Trugbild, man lässt seiner Phantasie freien Raum. Es ist wie bei einer englischen Kurzgeschichte mit „open end“: Die Vorstellungskraft des Betrachters wird angeregt und gefordert.
In den Texten sehen wir die Modellautos, zumeist in hervorragendem Erhaltungszustand, aber wir erfahren kaum etwas über sie, kein biographisches „Feedback“. Dafür sind die letzten 16 Seiten da, worin sechs Modelle pro Seite in Wort und Bild vorgestellt werden, viele zusammen mit ihrer Originalschachtel, also mint boxed. Benannt werden Typ, Modellhersteller, Bauzeitraum und auch, was sie können, also die beweglichen Teile. Wir sehen: In Veit Golinskis Sammlung tummelt sich, was der arrivierte Miniaturautosammler mit Fokus auf 60er Jahre und den Maßstab +/- 1:43 haben muss, und er hat eine spezielle Neigung zu allem Japanischen. Darüber hinaus zeigt er uns so manche Topprarität (und macht davon gar nicht viel Aufhebens) – Modelle, die viele Sammler womöglich noch nie in natura gesehen haben mögen. Der Verfasser dieser Zeilen sah erstmalig die Verpackung des Miniature Pet Opel Kapitän P I von 1958 und so manches Cherryca-Phenix-Modell zollt Bewunderung, Golinski zeigt gerne mal eine spanische Dalia-Lizenz anstelle des originalen Solido-Modells. Da ist also weit mehr als nur die Massenware zu sehen, die eine halbwegs gut sortierte Börse oder das tagtägliche Ebay zu bieten vermögen: IKA-Renault 6 von Buby aus Argentinien als Straßenwacht-Fahrzeug, Quiralu Messerschmitt Kabinenroller, das Mercury Lancia Flavia Coupé mit den Skiern auf Dachgepäckträger auf seiner Box, der Spot On Humber Super Snipe mit kompletter Koffergarnitur auf dem Dach, das Segelbootchen von CIJ mit seinem Pergament-Segel in unbeschädigtem Zustand… das sind schon leckere Sachen aus Golinskis Sammlung!
Ein Bilderbuch also, weniger ein Lesebuch, obgleich die Texte schön geschrieben sind. Ein Buch, in dem man sich verlieren kann. Ein Buch, das man jederzeit weglegen und wieder in die Hand nehmen könnte – aber niemand wird das tun: einmal angefangen, verfällt man seinem Bann und blättert weiter und auch mal wieder zurück und dann wieder weiter. Einem Sammler antiquarischer Modellautos, den man mag und den man beschenken möchte, macht man mit diesem Buch eine große Freude. Sofern es ihn denn je erreichen wird. Sich selber macht man nämlich ebenfalls eine. Und ob man es danach wirklich wieder aus der Hand geben möchte? Mein Exemplar bleibt jedenfalls bei mir, basta! Da braucht gar niemand zu quengeln…
afs

Fotos: Golinski/Eismann/Delius Fine Books




