Kleissl, Hans und Harry Niemann: „Mercedes-Benz 300 SL. Das Jahrhundertauto“. Stuttgart (Motorbuch-Verlag) ²2025. 368 Seiten. ISBN 978-3-613-04778-5. Preis 99 Euro.
Die ideale Erwartung des Lesers eines Autobuches ist, dass darin „alles“ über den jeweiligen Autotyp steht. Hat er es gelesen, so weiß er selbst nämlich auch alles. Aber „alles“ ist ein heikler Begriff in Bezug auf ein Auto, hier den Mercedes 300 SL als Flügeltürer und Roadster. Denn wirklich alles passt nie zwischen zwei Buchdeckel, auch wenn darin 368 großformatige Seiten Geschriebenes und Abgebildetes stehen. Der Autor muss also Abstriche machen und abwägen, was er mitnimmt und was er herauslässt (der Autor weiß stets mehr, als er in sein Buch schreibt – auch, weil die Seitenvorgabe des Verlages ihn beschränkt). Letztlich bedeutet die Qualität eines Buches also, ob der Autor das Richtige oder das Falsche weglässt. Und das wiederum bewertet jeder Leser für sich.
2017 erschien das ultimative 300-SL-Buch von Hans Kleissl und Harry Niemann, nun kommt die zweite Auflage. Das ist schon mal eine Auszeichnung. Der Motorbuch-Verlag ist nicht froh, die erste Auflage endlich mit Mühen abverkauft zu haben, denn Nachfrage besteht weiterhin, also kommt eine zweite. Harry Niemann war bis 2008 Leiter des Daimler-Benz-Konzernarchivs und veröffentliche viele technikgeschichtliche Bücher über Mercedes, Hans Kleissl hat sich dem Denkmalschutz verschrieben – dem architektonischen ebenso wie dem automobilen, wo sein Hauptinteressensgebiet dem 300 SL gehört, mit dem er auch handelt. Das zeigt bereits, in welcher Hinsicht das Buch „alles“ über den 300 SL bietet: Es nähert sich dem Fahrzeug in musealer, technikgeschichtlicher Hinsicht, ist also nichts für Schrauber und auch nichts für jene, die nette Reportagen über launige Ausflüge mit dem Flügeltürer erwarten. Insofern also „alles“ für Automobilhistoriker, aber nicht für Essayisten und Bastler.
Das Buch beginnt, wie sollte es anders sein, mit der Renngeschichte und lässt auch die Anekdote mit dem Geier in der Windschutzscheibe nicht aus – nicht, weil den Autoren nichts Neues einfällt, sondern weil der Leser das einfach lesen will. Es geht um Benzineinspritzung, Sicherheit, Aluminium, Eingelenk-Pendelachsen und Design (herrliche Entwurfsskizzen von Friedrich Geiger), beim Flügeltürer wieder um Rennen und natürlich um den amerikanischen SLS Porter Special, auch um Einzelstücke prominenter Privatfahrer oder Rekordjäger. Viele Flügeltürer und Roadster sind bekannten Persönlichkeiten zuzuordnen und dies findet im Buch seine Würdigung – unabhängig vom Sympathiegrad der jeweiligen Herrschaften. Schön zu lesen und geeignet für Wachträume kurz vor dem Einschlafen sind die Episoden über die „teuersten Schrottplätze“ der Welt, die 300 SL als Fundstücke, als Dornröschen.
Für Statistiker wichtig sind die Statistiken, darunter Rennerfolge (auch historische Rennen aus den 90ern), und Tabellen mit technische Daten, sämtlichen Modifikationen zwischen 1954 und 1963, werksseitigen Vorschlägen der Kombinationen zwischen Außenlack und Polsterung. Spannend sind die Listen der in den jeweiligen Farben ausgelieferten Fahrzeuge: Beim Flügeltürer ist Silber tatsächlich die häufigste Farbe, dann folgen gleichauf Graphitgrau und Schwarz. Das Feuerwehrrot, in dem so viele Modellautos gehalten sind, ist weit abgeschlagen. Anders beim Roadster: Weiß dominiert, gefolgt von Rot und Weißgrau, Silber ist erst an vierter Stelle.
Die Bildauswahl ist topp! Kein Wunder, stand ja das Konzernarchiv zur freien Verfügung, aber auch andere Archive öffneten den Autoren ihre Bestände. Vier Fünftel sind historische Bilddokumente, das ist sehr erfreulich, und ein paar moderne Aufnahmen lockern das Ganze auf. Dazu Prospekt-Nachdrucke, ein wenig Ephemera, und Verlag und Autoren leisten sich sogar den Luxus, ein paar (Menschen-) Fotos ohne Bezug zum 300 SL zu zeigen. Caramini-online hat dank dieses Buches jedenfalls Stoff für weitere 300-SL-Besprechungen. Denn nach der jüngsten Flut von Minichamps und Norev, wobei wir uns bemühen, uns nicht zu wiederholen, hatten wir so allmählich unser Wissens-Pulver verschossen. Nun haben wir Pulver-Nachschub im Arsenal.
afs