Lindner-Elsner, Jessica: Von Wartburg zu Opel. Arbeit und Ungleichheit im Automobilwerk Eisenach 1970-1992. Göttingen (Wallstein Verlag) 2023, 483 Seiten. ISBN 978-3-8353-5486-9, Preis 44 Euro.
Fast 500 Seiten über Wartburg und Opel? Nein! Schwerpunkt der zum Buch gewordenen Dissertation von Jessica Lindner-Elsner ist das Verhältnis von Arbeit und Ungleichheit im Automobilwerk Eisenach. Die Historikerin und Sozialwissenschaftlerin ist heute Leiterin des Archivs der Stiftung Automobile Welt Eisenach. Sie beschreibt die Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Werk Eisenach, in dem der Wartburg produziert wurde. Damit gibt sie einen Einblick in den DDR-Alltag. Sie schildert den Zusammenhang von Staat, Gesellschaft und Arbeit. Lindner-Elsner verweist auf die Ungleichheit von Frauen, weiterbeschäftigten Rentnern, Strafgefangenen und den „Gastarbeitern“ aus den RGW-Ländern wie zum Beispiel aus Kuba, Vietnam oder Ungarn. Damit widerlegt sie, dass alle Menschen in der DDR gleich gewesen seien. Sie zeigt deutlich, dass der DDR-Alltag nicht so war, wie es die sozialistische Propaganda darstellte. Gerade die Gleichberechtigung der Frau war in der Praxis eingeschränkt. Die Verantwortung für die Kinder lag bei den Frauen, doch das wurde bei der Arbeitsplanung nicht berücksichtigt. Teilzeit gab es kaum, schon weil ein Arbeitskräftemangel dies nicht zuließ. Die betriebseigenen Kindergarten- und Krippenplätze reichten nicht aus. Das Werk hatte eigene Lebensmittelgeschäfte und sogar eine Poliklinik. Aber die Geschäfte hatten nicht regelmäßig geöffnet und die Ärzte der Poliklinik waren mit dem Betrieb vernetzt: die Ärzte als Bestandteil des DDR-Kontrollapparats. Um einen Urlaubsplatz im FDGB-Heim oder einen Platz im betriebseigenen Kinderferienlager gab es Verteilungskämpfe, die nur besonders gut verdiente Mitarbeiter mit der entsprechenden politischen Einstellung gewinnen konnten. Die RGW-Arbeiter wurden von den DDR-Bürgern getrennt und lebten in eigenen Unterkünften. Sie wurden nicht als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft gesehen, somit lag auch hier ein Widerspruch zwischen Ideologie und Praxis vor. Der Mangel an Wohnraum, die schlechte Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr und die Verflechtung von Arbeit und politische Loyalität sorgten für eine hohe Fluktuation im Werk. Die Menschen suchten sich die besten Optionen heraus. Ganz ausführlich geht Lindner-Elsner auf die Umbruchszeit ab 1990 ein, also die Transformation zu Opel und die genauen Begleitumstände.
Die Automobilgeschichte ist in diesem Buch nur ein Randgebiet. Wer sich also ausschließlich dafür interessiert, wird nicht auf seine Kosten kommen. Dafür ist es für Geschichts- und Wirtschaftsinteressierte eine sehr gute Informationsquelle, die vor allem den Alltag in der DDR ausführlich darstellt und so manche Propaganda entlarvt. Die Autorin geht auf Distanz und schreibt wissenschaftlich neutral. Sie belegt ihre Aussagen mit Quellen. Somit findet keine positiv gefärbte Verklärung der DDR-Geschichte statt. Lindner-Elsner zeigt die Tatsachen auf und ermöglicht dem Leser eine eigene kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema. Davon sollte es mehr Bücher geben.
Etwas zu kurz kommt der RGW-Einheitswagen. Das Gemeinschaftsprojekt zwischen der ČSSR und der DDR wird kaum genannt. In Eisenach sollte in Massenproduktion dieses moderne Viertakt-Fahrzeug gebaut werden. Seit Anfang der 70er Jahre wurde daran gearbeitet und Ende des Jahrzehnts gab es Prototypen. Das Projekt wurde gestoppt. Es war das letzte DDR-Entwicklungs-Projekt im PKW-Bereich. Die Leserin hatte mehr darüber erwartet. Wahrscheinlich ist dieses Thema von der Autorin nicht intensiv aufgegriffen worden, weil es ihre Dissertationsarbeit war. Derartige Arbeiten unterliegen besonderen wissenschaftlichen Regeln.
Trotzdem ist es ein sehr gelungenes Werk über das Automobilwerk Eisenach. Der Text ist in allgemein verständliche Sprache geschrieben und die Kapitel sind in sich abgeschlossen. Somit kann das Buch auch in vielen Etappen gelesen werden. Die zahlreichen Fallbeispiele sorgen dafür, dass das Buch nachvollziehbar ist, auch für Menschen, die diese Zeit und dieses System nicht erlebt haben.
bat