Der Vierte im Bunde
Er muss wohl betörend sein, der 600er. Jeder (na gut, fast jeder) macht nun einen. Vor allem in seiner erigierten Form als Pullman findet der Mercedes 600 viele Freunde. Nun kommt ein neuer Player auf den europäischen Markt: NZG liefert seinen Mercedes 600 Pullman nicht nur an den Fachhandel, sondern auch an Daimler. Und das ist ein ganz besonders schönes Exemplar!
Die Geschichte des Mercedes 600 Pullman in 1:18 begann zu prähistorischen Zeiten mit dem Sunstar-Modell vor einem Vierteljahrhundert, damals einzigartig und begehrenswert, aus heutiger Sicht nicht mehr satisfaktionsfähig. Dann kam AUTOart 2008 mit kurzem und langem 600er, schlichtweg ein Traum, der bis heute Gültigkeit hat. Der AUTOart-600er ist einer der teuersten Gebrauchtwagen. Wer ihn sich damals im Fachhandel oder beim Mercedes-Händler gönnte, ist glücklich, und wer dies versäumte, bereut es bis heute. Ende 2019 erschien die längste Praline der Welt von CMC, bis heute lieferbar, ganz gewaltig dreistellig, eine herrliche Wiedergabe des Originals und eigentlich so gar nicht ins CMC-Portfolio passend. Jeder dachte, dass die AUTOart-Preise nach dem Erscheinen des CMC-Modells sinken würden und jeder täuschte sich. Damals war der lange 600er in aller Munde, und sowohl Model Car World mit seiner Eigenmarke MCG als auch Modelissimo mit seiner Eigenmarke KK-Scale sprangen auf den dampfenden Zug auf und brachten ihrerseits Pullmänner in der 70- bis 100-Euro-Klasse.
Nun kommt NZG mit einem neuen Modell im High-End-Sektor nach Europa, hat dafür eine Daimler-Lizenz bekommen und liefert es an deren Accessoireschiene, verkauft es aber auch in anderen Farben im Fachhandel. Das ist also der sechste Mercedes 600 Pullman in 1:18. Und Norev, der Platzhirsch in Sachen historischer Benze, jene Firma, die mit Daimler seinerzeit ausgehandelt hat, alle wichtigen Fahrzeuge der Mercedes-Nachkriegsgeschichte zusammen mit dem Konzern zu realisieren? Norev macht keinen und wird auch keinen machen, weder kurz noch lang. Wir ließen uns dieses Statement extra nochmals vom Norev-Produktmanager Sascha Voss bestätigen. So weit, so gut. Sofern nicht Minichamps und Almost Real auf die abstruse Idee kommen sollten, Pullman Nummer sieben und Nummer acht zu machen, dürfte es das nun gewesen sein an Mercedes 600 Pullman. Reicht ja auch!
Von Lizenzen, Farben und Preisen
Ist der Neue ein NZG- oder ein Keng-Fai-Modell? Kenny Rösler, der Vertriebschef von NZG, sagt, es handle sich um ein NZG-Modell (wobei alle NZG-Modelle bei Keng Fai gefertigt werden). Denn NZG habe die Lizenz von Daimler inne und NZG liefere die Mercedes-Industriemodelle. Also wollen wir das Fahrzeug ein „adoptiertes NZG-Modell“ nennen. Denn tatsächlich erschien der Mercedes 600 Pullman als Keng-Fai-Modell im Sommer 2021, aber unlizenziert und (auch) deshalb nur auf dem asiatischen Markt lieferbar. Ein paar engagierte Händler brachten Einzelexemplare nach Europa, aber keine Mengen. Lustig ist die Schachtelbeschriftung der chinesischen Fachhandelsversion: „Mercedes-benz Pullman“, mit klein geschriebenem „Benz“ und unter Auslassung von „600“. Alleine damit hätte Keng Fai nie eine Daimler-Lizenz bekommen! Einen solchen Lapsus leistet sich die NZG-Version natürlich nicht. Und auch sonst scheint der 600er in der heutigen NZG-Version gegenüber der ursprünglichen Keng-Fai-Variante in Details leicht modifiziert zu sein.
In den Fachhandel wird das NZG-Modell in Dunkelrotmetallic mit weißer Innenausstattung sowie in Schwarz und Champagnermetallic, innen jeweils rot, kommen (in diesen Farben gab es bereits die Keng-Fai-Version von 2021). Mercedes bekommt den großen Wagen in Dunkelblaumetallic und in Weißgrau. Die Daimler-Preise kennen wir noch nicht, NZG nimmt glatte 300 Euro für den Pullman.
Ein Modell wie Donnerhall: Der lange NZG-600er betört
Es ist kein Gesetz, aber es wird erwartet: Ein Modellauto muss (oder: sollte) mit dem Stellenwert, der Qualität und der Aura des Originals korrespondieren. Es sollte also dem Original angemessen sein. Das ist in aller Sinne, auch im Sinne des Vorbildherstellers. Das ist auch der Ursprung der Lizenzvergabe durch Autokonzerne an Modellautohersteller. Ursprünglich wollten sie vermeiden, dass der Stellenwert ihrer Produkte unter billigem Schundspielzeug leidet. Rolls-Royce wollte einfach nicht, dass ein chinesisches no-name-Produkt ihren Wagen karikiert. Die Hersteller wollten zuvor sehen, was als Verkleinerung ihres Vorbildes auf den Markt kommen soll und im Zweifelsfall ein Verbot aussprechen. Dies ging nur in Form einer Lizenzierung. Dass daraus ein Geschäftsmodell für die Autokonzerne zuungunsten der Modellhersteller und dadurch der Modellautosammler werden sollte, war anfangs nicht beabsichtigt, kristallisierte sich aber heraus, nachdem erste Hersteller die Lizenzierung als Geschäftsmodell für zusätzliche Einnahmen erkannten.
Inwieweit 70- bis 100-Euro-Modelle dem Stellenwert eines Mercedes 600 Pullman entsprechen, darf diskutiert werden. Ein Modellauto-Highender wie CMC und AUTOart wird ihm sicherlich gerecht. Und das Keng-Fai-Modell ebenfalls. Dies könnte eigentlich schon der Höhe- und Endpunkt dieser Rezension sein: Das Keng-Fai-Modell fängt die typische Wirkung, die Qualitätsanmutung und die Bedeutung des Mercedes 600 Pullman vollinhaltlich ein, wird ihm gerecht, die Miniatur ist des Vorbilds würdig. Alles im Folgenden darüber hinaus Gesagte wird dieses vorgezogene Fazit nur ausschmücken.
Das Modell ist 35 Zentimeter lange Noblesse, vom Stern bis zum Heckschriftzug. Ein dunkles, tief glänzendes Rotmetallic, wie dunkler Burgunder, kombiniert mit einem altweißen Interieur, das sich niemand mit Schuhen zu betreten getrauen sollte. Dazu satter, repräsentativer Chrom, so dick aufgetragen wie es Daimler-Benz damals selbst tat (und für zu viel Lametta gescholten wurde, das sei protzig, hieß es in den diskreten 60er Jahren). Das Modell ist mit allem ausgestattet, was der Sammler erwartet, wenn er eine Luxuslimousine erwirbt: Teppichboden, Holznachbildung, Sicherheitsgurte mit fotogeätzten Schnallen, ein beflockter Kofferraum mit einem passgenauen, ebenfalls weißen Koffersatz (sechs Koffer, ihrerseits wohl dekoriert), ein durchbrochenes Kühlergitter, dahinter ein separat eingesetzter Daimler-Verbrenner vom Typ M100 mit 6,3 Litern, acht gevauten Zylindern und 250 PS Output, einem dreidimensionalen Stern auf dem Grill (nicht nur ein platt gedrücktes Fotoätzteil), Vorhänge im Separée und herrlich modellierte Mercedes-Radkappen (die das Modell als Baujahr ab 1968 ausweisen, weil einteilig). Alles geht auf (bis auf die Tankklappe, das kann nur der CMC-600er!), das Modell rollt gut, es lenkt und federt. Das ist ein 18er vom Feinsten, so wünscht man sich das!
An diesem Modell gibt es nichts auszusetzen, ausschließlich Lob. Keng Fai beweist damit, Modellautos auf hohem Niveau konstruieren und fertigen zu können, und auch wenn es offiziell ein NZG-Modell ist und als solches deklariert wird, so ist und bleibt es eine Keng-Fai-Konstruktion. Aber letztlich ist es gleichgültig, wessen Name die Miniatur trägt. Die Zeiten sind lange vorbei, in denen ein chinesischer Name weniger wert ist als ein Nürnberger – zumindest in Modellautokreisen. Wobei… NZG mit Tradition seit 1968, Nürnberg als die deutsche Spielzeugstadt schlechthin, dagegen Keng Fai mit Blick auf „nur“ 35jährigem Bestand und beheimatet in Dong Guan, 9000 Kilometer Luftlinie von Nürnberg entfernt – da traut man NZG mehr in Sachen Mercedes 600 zu. NZG existierte bereits, als der Mercedes 600 aktuell war (1963 bis 1981), und durch Nürnberg fuhren damals sicherlich mehr 600er als heute durch Dong Guan. Somit darf man sagen, NZG ist „näher dran“ am Mercedes 600. Aber welche Rolle spielen räumliche und gelebte Nähe sowie emotionale Bindung der Akteure zum Produkt oder gar Zeitzeugenleistung heute noch, in einer globalen Welt?
Jedenfalls halten wir den Keng Fai/NZG-Mercedes für eine Alternative zum AUTOart-Desiderata (und der CMC ist für die meisten Sammler unerreichbar). Die AUTOart-Interpretation ist antiquarisch nach wie vor furchtbar teuer. Dass der CMC nicht für eine Preisentspannung bei ihm sorgte, ist ja noch verständlich, weil das CMC-Modell als Neufahrzeug rund 900 Euro kostet. Aber auch das Vorhandensein des Keng-Fai-Modells, zumindest via China seit drei Jahren verfügbar, rüttelte nicht an den AUTOart-Preisen. Es wird ganz interessant sein, zu beobachten, ob der AUTOart-Pullman nun im Liebhaberpreis nachgibt, wenn das NZG-Modell weithin verfügbar sein wird.
afs
Steckbrief:
NZG 1071/15 Mercedes 600 Pullman 1969 dunkelrotmetallic. Fertigmodell Zinkdruckguss, Maßstab 1:18. UVP 300 Euro.
Etymologie: Der Pullman und die Stretch-Limo
Die Bezeichnung Pullman stammt aus dem Englischen, weshalb man das Wort mit einem „n“ schreibt. Ursprünglich bezeichnete es besonders großzügig und luxuriös ausgestattete Eisenbahnwaggons, gebaut von der amerikanischen Pullman Palace Car Company, die von George Mortimer Pullman 1862 gegründet wurde. Im automobilen Sektor benutzte Daimler-Benz das Wort Pullman erstmals, lange vor dem Krieg. In den 60er Jahren verselbständigte es sich und wurde von der Typenbezeichnung für den verlängerten Mercedes 600 zur Genrebezeichnung für verlängerte Limousinen schlechthin. Obgleich amerikanischen Ursprungs, wurde es im deutschen Duktus in den vergangenen Jahren von einem noch amerikanischeren Lehnwort abgelöst, der „Stretch-Limo“. Man mag allerdings wohlwollend einen Unterschied zwischen einem Pullman und einer Stretch-Limo darin finden, dass ersterer als Langlimousine originär konstruiert wurde, die Stretch-Limo hingegen ein nachträglich von externen Spezialisten verlängertes Riesenauto ist.
Nicht nur den langen 600er bezeichnete Daimler-Benz als Pullman, auch ein großzügig gestaltetes Lastwagen-Fahrerhaus („Pullman-Kabine“), wobei hier das Wort Pullman sogar in der Typbezeichnung steht: LP steht für „Lastwagen Pullman“. Dies gilt auch für die luxuriösen Omnibusse OP 3500 und OP 6000. Interessanterweise bezeichnete Daimler-Benz die verlängerten Versionen der Mittelklasse-Modelle nie als Pullman, der Volksmund allerdings macht keinen Unterschied. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es zwischen 1905 und 1917 im amerikanischen Pennsylvania die York Motor Car Company gab, die ihre Produkte unter dem Namen Pullman vermarktete. Dieser Name versuchte, das Renommee der berühmten Pullman-Waggons auf die Automobile zu übertragen. Es misslang, Bankrott 1917.