Underdog mit goldenem Herzen
Ein reines Nischenfahrzeug, eher ungeliebt, obwohl ein Alfa Romeo. Und dann fast gleichzeitig gleich zwei 1:18-Resineminiaturen. Die jüngste Interpretation stammt von Laudoracing und ist ein ebenso charmantes wie fehlerfreies Modell von einem Original, das wirklich nur noch Eingeweihte kennen und lieben.
Bis 1969 lief die Limousine Alfa Romeo 2600, zuletzt veraltet, aber immerhin Bestandteil des Alfa-Programms. Mit ein wenig zeitlicher Verzögerung hätte drei oder vier Jahre später eine neue Sechszylinder-Limousine kommen sollen, Alfa Projekt 119 unter der Ägide des Alfa-Technikchefs Orazio Satta Puglia. Aber der 119er ließ sich zehn Jahre Zeit. Geplant war extra für ihn ein neuer 2,5-Liter-V6 (Konstruktion Giuseppe Busso), aber Geldmangel und die Verteufelung von Klasse- und Rassewagen nach der Ölkrise 1973 ließ Alfa immer länger zögern. Die Entwicklung des Alfa Sei, wie er später heißen sollte, stammte vom Ende der 60er Jahre, ungefähr gleichzeitig mit der Alfetta, die 1972 kam. Beider Designer war der gleiche, Mario Emilio Favilla aus dem Centro Stile Alfa Romeo. Und so sah der neue Alfa Romeo Alfa Sei auch aus, als er denn 1979 tatsächlich das Licht der Welt erblickte: Wie ein acht Jahre alter Wagen, klassisch zwar, ohne Zweifel, aber alles andere als auf der Höhe der Zeit. Er kam zu spät. Aber das war es nicht alleine. Das Publikum und dessen geistiges Auge war sehr an die Proportionen der Alfetta gewöhnt, und der Alfa Sei variierte genau diese Proportionen, blieb aber im Alfetta-Stil (und verwendete sogar deren vier Türen und Dachhaut). So nahm der Betrachter den Alfa Sei schlichtweg als verzerrte Alfetta wahr – vor allem in hinteren Bereich, der Sei wies einen ungewöhnlich langen hinteren Überhang auf. Die Breite hingegen war auf Alfetta-Niveau, wodurch die neue Großlimousine eben nicht die inneren Gardemaße anderer Großlimousinen aufwies – nota bene: 1979 erschien auch die Mercedes S-Klasse W126 als wahrlich modern gezeichnete Limousine, windkanalerprobt, Kunststoffstoßfänger, radikal auf niedrigen cw-Wert und Verbrauchsoptimierung getrimmt. Dagegen der Alfa: steil stehende Scheiben, langer Kofferraum, schmal, Chromstoßstangen mit Gummiummantelung im alten Stil, überdimensioniert-unpassende Rückleuchten und ein überbetonter Luftauslass in der sehr breiten C-Säule, der allgemein als unelegant wahrgenommen wurde. Und ein cw-Wert, der jenem des römischen Pantheons in Nichts nachstand.
Technisch: Alfa pur, aber ohne eben jenes Element, das in Alfa-Kreisen als modern galt, nämlich die Transaxle-Bauweise (welche die Alfetta auszeichnete). Das Getriebe saß beim Alfa Sei konventionell hinter dem Motor und somit zwischen den vorne Sitzenden. Die aufwändige DeDion-Hinterachse hingegen war das einzig konstruktiv Erwähnenswerte an einem technisch konservativen Wagen. Der 2,5-Liter-Busso-Motor klang gut und war mit 158 PS hinreichend stark, fünf Gänge waren auf dem Stand der Zeit, eine schwierig einzustellende Vergaseranlage mit sechs Dell’Orto-Vergasern hingegen nicht mehr unbedingt. Nett war, dass, wie beim Montreal und bei anderen sportlichen Wagen, der erste Gang unten links saß. Die Innenraumgestaltung war elegant, aber so unmodern wie das gesamte Auto, die Verarbeitungsqualität für Alfa-Verhältnisse hingegen gut, für den Durchschnittskunden somit akzeptabel. Der Alfa Sei war sicherlich ein besseres und dauerhafteres Automobil als beispielsweise ein Alfasud. Der Sei lag prima auf der Straße, soff wie ein Loch und war von Anfang an exklusiv, weil die Kunden modernere Konstruktionen bevorzugten.
Beschämende Anekdoten
Einer der ersten Italiener, der eine Alfa 6 Berlina erhielt, war der Schauspieler Gino Bramieri. Bei einer gemeinsamen Reise mit Kollegen kam Sergio Tardioli, ebenfalls Schauspieler, nach einer Ausfahrt aus einem langen Tunnel auf Schnee von der Straße ab. Bei dem dramatischen Unfall verlor die nicht angeschnallte Kollegin Liana Trouché ihr Leben (der Alfa hatte Gurte, aber in Italien galt noch keine Gurtpflicht). Das ging gewaltig durch die italienischen Medien und förderte nicht gerade das Image des Alfa Sei. Die erste Serie des Alfa Romeo Alfa Sei lief in 6358 Exemplaren von April 1979 bis Oktober 1983, dann folgte eine große Überarbeitung (gemeinsam mit Bertone durchgeführt) für die letzten drei Produktionsjahre. Bis Dezember 1986 wurden davon 5685 6000 Stück gebaut, und die letzten standen so lange unverkäuflich herum, bis Alfa Romeo sie in einer Verzweiflungstat nach Polen exportierte und dort billig verscherbelte. Und noch eine beschämende Anekdote: Sieben Fahrzeuge der ersten Serie wurden 1979 von Hand auf US-Spezifikationen umgebaute und die USA spediert. Aber der dortige Alfa-Importeur stufte sie als in jeder Hinsicht unverkäuflich ein und ließ sie verschrotten. Das alles klingt furchtbar deprimierend und negativ. Dabei ist der Alfa Sei als „echtes Auto“ ebenso wie als Modell, ein Charaktertyp, der einige Sammler geradezu euphorisiert. Das liegt einzig und alleine an dem Wandel, den ein Automobil durchmacht, wenn es vom Neu- über den Gebrauchtwagen schließlich zum Young- oder Oldtimer, jedenfalls zum Klassiker, evolutioniert (bestes Beispiel dafür ist der Porsche 928). Heute ist der Alfa Sei ein seltenes Fahrzeug, erfährt Begeisterung dafür, ein klassischer Alfa Romeo zu sein, erfährt Mitleid dafür, unter seinem Underdog-Image gelitten zu haben, und überhaupt und außerdem mag man an ihm, dass er sozusagen aus der Zeit gefallen ist.
Mehr als vitrinentauglich: Eine Schönheit
Gerne verwenden wir die Formulierung, „der xy ist im Farbton z in Erinnerung geblieben“. Es trifft im Falle des Alfa Sei wahrlich nur auf einen kleinen Kreis zu, dass der Wagen überhaupt in Erinnerung geblieben ist. Aber wenn, dann am ehesten in dunklem Rotmetallic und in Anthrazit, die zweite Serie womöglich noch in einem golden schimmernden Mittelbraunmetallic. Fünf Farben offeriert Laudoracing für den 1979er Alfa Sei: die Töne Rosso Veneziano (Präsentations- und Prospektfarbe) und Luci di Bosco, darüber hinaus zwei Blautöne (Blu Olandese als dunkler Unilack und Metallicmittelblau namens Blu Pervinca), schließlich noch unverbindliches Silbermetallic. Jede Farbe in einer 199er Auflage zum selben Preis. Von einer geplante Serie 2, also mit Breitbandscheinwerfern, ist bei Laudoracing (noch) nicht die Rede. Unser Muster ist im Farbton Luci di Bosco gehalten, was man mit „Waldleuchten“ oder „Waldlichter“ übersetzen kann, sehr romantisch und dichterisch für eine Farbtonbezeichnung. Aber es stimmt: Die Farbe kann sich, wie Baumrinde im Dunkeln, nicht entscheiden, ob sie eher braun oder grau sein möchte, dazu eine gehörige Portion güldene Strahlen beigemischt – ein wahrlich einzigartiger, fast schon geheimnisvoller Farbton.
Wir waren auf den Alfa Sei von Laudoracing gespannt, weil auf Prototypenfotos die oberen Linien der Seitenfenster zu streng und gerade waren. Aber Laudoracing ist kein Fauxpas widerfahren, Proportionen und Dimensionen stimmen ebenso wie die generelle Linienführung. Ein Modell ohne Schwachstellen, das den Wünschen und Anforderungen gerecht wird, außen wie innen, und sogar das Chassis kann sich sehen lassen, was bei Resinemodellen oftmals nicht der Fall ist. Das Modell ist vom Scheitel bis zur Sohle liebevoll detailliert: verchromt bedruckte Scheibenumrandungen, nahezu keine Druckwerke, alles passgenau eingefügt, selbst Winzigkeiten wie das Kofferraumschloss sind separat eingesetzt, auch der Außenspiegel mehrteilig gefertigt, die Chromzier in den schwarzen Türgriffen extra, die Leuchten sehr realistisch, vor allem hinten absolut dreidimensional, die Campagnolo-Alus ein Traum (sie zu realisieren ist formenbauerisch aufwändig!). Die Embleme auf den Nabenabdeckungen sowie im Grill, auch der Heckschriftzug und die Parkscheibe an der Windschutzscheibe sind Decals. Innen ist das Modell in Luci di Bosco in hellem Beige gehalten, also alles gut sichtbar. Was wir sehen, gefällt uns sehr gut: ausgeformter Dachhimmel, korrekt strukturierte Möbel und Türverkleidungen, auch hier separate Anbauteile (z.B. Türöffner), das mit Holz dekorierte Armaturenbrett sowie die Konsole in neutralem Schwarz gehalten, korrektes Lenkrad mit der typischen, viereckigen Prallplatte und Holzeinlage, Gurtbefestigungen (aber leider keine Gurte). Der Laudoracing Alfa Sei ist ein Schaltwagen (Holzschaltknauf).
Wenn ein solcher Exote gleich zwei Mal im selben Maßstab und aus dem selben Material in selber, grundsätzlicher Machart den Sammlermarkt flutet, ist natürlich ein Blick auf die Konkurrenz geboten, bei Cult Scale Models im Sommer 2023 erschienen. Auch Cult Scale trifft die Linien des Alfa 6 sehr gut, dieses Modell hat aber zu breite Rückleuchteneinfassung, ein einfacher gestaltetes Scudetto, die Fensterumfassungen und die Schwellerzierleiste sind silbern bedruckt und nicht verchromt. Auf der Habenseite: Bei Cult Scale können die Vorderräder einschlagen. Dafür kostet er rund 200 Euro gegenüber rund 120 bei Laudoracing.
Steckbrief:
Laudoracing LM156E Alfa Romeo Alfa Sei 2.5 1979 Luci di Bosco. Fertigmodell Resine, Maßstab 1:18. Auflage 199 Exemplare. Preis direkt bei Laudoracing 119,90 Euro, beim Fachhändler etwas teurer.
afs
Randnotiz:
Dillingen an der Donau als Alfa-Mekka
Der Autor absolvierte im Sommer 1984 seine Bundeswehr-Grundausbildung in Dillingen an der Donau. Das ist eine Kreisstadt in Bayrisch-Schwaben mit weniger als 20.000 Einwohnern und mit damals sehr vielen Soldaten und wenigen Autohäusern. Es gab die üblichen deutschen Automarken zu kaufen und einen einzigen Händler, der Importautos anbot, einen Alfa-Romeo-Händler, nämlich Alfa-Joas in der Donaustraße (gibt es schon lange nicht mehr). Der war sehr engagiert und erfolgreich. Nie zuvor habe ich in einer Stadt eine größere Alfa-Romeo-Dichte erlebt. Es gab nahezu keine Peugeot und Citroën dort, keine Fiat und kaum Japaner. Wer dem deutschen automobilen Einerlei in Dillingen an der Donau entfliehen wollte, fuhr einen Alfa. Auch in der Alfa-Sei-Klasse. Natürlich überwogen Mercedes W123 und Fünfer-BMW in der 2,5-Liter-Klasse. Aber während sonst als Alternative ein Peugeot 604 oder ein CX oder ein Rover oder ein Talbot Tagora oder ein Lancia Gamma in Frage kamen, kam in Dillingen nur die Alfa 6 Limousine in Betracht. Nirgends sonst sah ich eine solch hohe Alfa-Sei-Population wie im Sommer 1984 in Dillingen an der Donau.
afs
Randnotiz:
Der Alfa Sei von Norev in 1:43
Die 1:18er-Fraktion kann nun aus zwei Alfa Sei der ersten Serie wählen, Laudoracing und Cult Scale Models. In 1:43 gibt es von Norev ein zeitgenössisches Modell der ersten und von Neo ein Resinemodell der zweiten Serie. Das Neo-Modell ist in ungewöhnlicher Verzerrung gestaltet, als hätte der Formenbauer die Profilansicht nach einem Weitwinkelobjektiv-Foto gestaltet, vor allem der Kofferraumbereich ist viel zu lang. Wir können es nicht zeigen. Wir haben es nicht, es gefällt uns nicht. Sehenswerter ist die Norev-Miniatur. Sie stammt aus der Zeit, als das 1:43-Spielzeugauto im Aussterben begriffen war und sich die wenigen Vertreter an Einfachheit gegenseitig überboten. Doch man muss Norev lassen, dass deren Firmenbau zu allen Zeiten gut war – auch, als der Alfa Sei 1979/80 in der Serie Jet-Car aus Zinkdruckguss erschien. Zwar schlimme Knubbelräder und unrealistische Farben, oftmals kindlich-bunt mit Phantasiewerbung bedruckt. Aber in diesem Miniaturauto steckte Potenzial. Von Tron gab es in den 80ern Cromodoro-Alufelgen für Alfa Romeo als Zubehör zu kaufen, die den Norev Alfa Sei gewaltig aufwerteten. Und dann musste er eben neu und seriös lackiert werden. Jahre später grub Norev die Formwerkzeuge für eine italienische Partworkserie wieder aus und modifizierte den Wagen: keine zu öffnenden Türen mehr, ordentliches Räderwerk (die Cromodoro-Alus), separat eingesetzte Rückleuchten, Außenspiegel an der Fahrertüre, transparente statt farbig getönter Verglasung, saubere, ernsthafte Lackierung in Anthrazitmetallic und Dekoration. Norev machte aus dem Spielzeug ein ernst zu nehmendes Modellauto. Kurios ist, dass es nur als Partwork-Modell erschien, aber nie in den Fachhandel kam.
afs