Wie in den guten alten Zeiten
Da kommen nostalgische Gefühle auf: Märklin bringt seinen Kaelble Muldenkipper wieder, ein legendäres Spielzeugauto aus den 50er und 60er Jahren. Es ist das Märklin-Replica-Jahresmodell und erscheint mit zwei Jahren Verspätung. Doch nichts ist relativer als die Zeit selber.
Zeit ist relativ. Warten macht Spaß. Man darf ob all der Wartezeit allerdings nicht vergessen, worauf man wartet und dass man überhaupt wartet. Ein Retro-Spielzeugauto steht nicht auf der obersten Prioritätenliste von Märklin. Es kam dennoch. Tatsächlich! Nicht mit einem, sondern mit zwei Jahren Verspätung. Der Autor dieser Zeilen hatte das Märklin-Replicamodell 2022 im Februar 2022 beim Hersteller angefragt und erfuhr von Märklin, es werde „voraussichtlich im Oktober 2022 verfügbar sein“. Geduldig gewartet, nichts gehört, nochmals nachgefragt im April 2023. Antwort von Märklin: „Die Auslieferung verzögert sich (…) auf Sommer 2023. Danke für Ihre Geduld.“ Wieder gewartet, wieder nichts Neues gehört, das dritte Mal nachgefragt im Februar 2024 (man muss dran bleiben!). Märklin freut sich und schreibt: „Das Warten hat ein Ende, denn das Modell befindet sich in der Auslieferung und ist in Kürze auf dem Weg zu Ihnen.“ Stimmt: Eine Woche später war es da. Natürlich interessierte uns, nachdem das Replicamodell 2022 im Jahre 2024 erschien, ob denn Replicamodelle für die Jahre 2023 und 2024 geplant seien. Nein, sagt Märklin-Sprecherin Melanie Hübner, weitere Replica-Jahresmodelle seien „vorerst nicht geplant“. Schade. Erfreuen wir uns also am Kaelble Muldenkipper, der vielleicht das letzte Märklin Replica-Jahresmodell sein wird. Vielleicht auch nicht. Aber so schnell kommt kein weiteres, und der Jahresrhythmus ist ohnehin perdü. Das Vorgänger-Jahresmodell 2021, der Tempo Wiking I Hochpritsche, schaffte es immerhin noch in seinem Bestimmungsjahr – trotz Corona, Lockdown, Lieferkettenproblemen -, rechtzeitig zu Weihnachten, er erreichte uns am 17. Dezember 2021. Aber, wie eingangs erwähnt, Spielzeugauto-Replikate der legendären 8000er-Serie sind nicht gerade das Gebiet, für das die Firma und Marke Märklin heute stehen. Es gibt Wichtigeres für Märklin als den alten Kaelble.
Weder „Kaelble“ noch „Meiller“ ist zu lesen
Nun ist er da. Eine Reminiszenz an Kindertage für die Älteren unter uns, reine Nostalgie für die Jüngeren. Er gehört zur Märklin-8000er-Serie, 1948 ins Leben gerufen und in der zweiten Hälfte der 60er Jahre durch die neue rak-Serie ersetzt; einige Nutzfahrzeuge wie der Kaelble mit der Nummer 8036 durften bis 1971 überleben. Bekannt ist der Kaelble in nur zwei Farbvarianten, ockergelb und rot, wobei jeweils das komplette Modelle (also Fahrerhaus, Mulde und Fahrgestell) in derselben Farbe lackiert waren. Der Maßstab liegt bei circa 1:55. Die Neuauflage sieht auf den ersten Blick aus wie aus den originalen Formen entstanden. Das stimmt aber nicht, die originalen Werkzeuge wurden nicht revitalisiert, sondern neue wurden geschaffen, welche die originalen so gut wie möglich imitieren. Märklin plagiiert sich somit also selbst.
Die „neuen Alten“ stammen allesamt aus China, tragen also nicht den „Made in Germany“-Schriftzug, auch nicht die eingravierte Seriennummer 8036, und der „Märklin“-Schriftzug ist moderner. Somit besteht also keine Verwechslungsgefahr mit einem alten Originalspielzeug. Die gibt es aber auch bei näherer Betrachtung nicht. Das Replikat ist zwar im selben ockergelben Farbton lackiert wie das Original, aber in anderer, eben in moderner chinesischer Qualität, hochglänzend und mit einer einwandfreien Oberfläche, wie es die seinerzeit in Göppingen handgespritzten Originale nie erreichen konnten. Außerdem ist das Fahrgestell in Glanzschwarz statt in Ockergelb gehalten.
Formale Unterschiede? Wer suchet, der findet: Manches ist schlichtweg dem neuen Formenbau geschuldet, so ist beispielsweise die Umrandung der Kühlöffnungen seitlich der Motorhaube beim Replikat stärker ausgeprägt als beim Original, eine moderne 7-Lobe-Schraube, die nur mit einem speziellen Bit geöffnet werden kann, ersetzt die gute alte Schlitzschraube. Und beide Vorbild-Markennamen sind verschwunden oder mussten verschwinden, womöglich, weil Märklin keine Gebühren an den Kaelble-Rechtsnachfolger Atlas GmbH und auch nicht an den Hersteller der Kippmulde, die Münchner Firma Meiller, zahlen wollte. Jedenfalls steht im Kühlergrill des Replikats nicht mehr „Kaelble“ und an den Seitenwänden der Mulde nicht mehr „Meiller“. Durch all diese zwar kleinen, aber signifikanten Veränderungen sind, wie erwähnt, Verwechslungen ausgeschlossen; die Existenz des neuen Modells dürfte sich auch nicht negativ auf den Wert des Originals auswirken.
Was beiden, dem Alten und dem Neuen, gemeinsam ist, ist das, was sie auch wirklich gemeinsam haben sollten: die Anmutungsqualität, die ins Warmherzige gehende Erinnerung an alte Zeiten, das nostalgische Moment. Auch der Spielwert ist geblieben. Das Replikat rollt samtweich auf seinen Gummireifen, die aus Aluminium gedrehten, generischen Felgen glänzen schön, und der Kippmechanismus mit Handhebel und Feder funktioniert beim 2024er Modell so einwandfrei wie beim Original.
Märklin tat, was Wiking nicht tat
Einen schwäbischeren Kraftfahrzeugnamen als Kaelble gibt es nicht. Ein Kälble ist ein kleines Kalb, und ein Kalb ist ein junges Rindvieh. Gottfried Kaelble betrieb ab 1884 in Cannstatt eine mechanische Reparaturwerkstatt und begann fünf Jahre später in Backnang mit dem Maschinenbau (also jeweils rund um Stuttgart). Den ersten Schwerlastwagen baute Kaelble 1907, und schwerem Gerät blieb die Firma treu: Zugmaschinen für Straßenroller zum Waggontransport auf der Straße, überhaupt für schwerste Lasten, Muldenkipper und Planierraupen. In den 70er Jahren setzte Kaelble zu sehr auf das Geschäft mit Arabien, ein Handelsembargo gegen Lybien hatte katastrophale Auswirkungen auf Kaelble, 1996 Konkurs. Den Traditionsnamen Kaelble gibt es im Besitz von Atlas noch heute, Produktion von Radladern in Bulgarien. Anfang der 50er Jahre ging es Kaelble noch gut, eigene Motoren, schwere Lastwagen, das brauchte die junge Bundesrepublik in Zeiten des Wiederaufbaus und Baubooms, auch die Bundesbahn war Großabnehmer.
Mit dem Kaelble KDV832L Muldenkipper traf Kaelble den Nerv der Zeit: sechs angetriebene Räder, hintere Doppelachse, die Kippmulde konnte bis auf 70 ° Kippwinkel hochgefahren werden, sodass der Inhalt ohne menschliche Zuhilfenahme komplett entleert werden konnte, die Hubpresse diente gleichzeitig als Rückzugpresse, satte 9 m³ Muldeninhalt. Dazu ein für damalige Verhältnisse sehr starker Motor (19,1-Liter-V8-Diesel mit 200 PS), sechs Vorwärtsgänge, stabiler Rahmen, ausreichende Geländegängigkeit. Die Nutzfahrzeugpresse war damals voll des Lobes, der auf der Hannovermesse 1952 präsentierte Kaelble Muldenkipper war in aller Munde und galt als technische Sensation. Kein Wunder, dass sich Märklin seiner annahm, und ein Wunder, dass es Wiking nicht tat. Wiking ließ sich bekanntlich bis 1967 Zeit, bis deren Kaelble KV34 Muldenkipper erschien. Und den Kaelble KDV, also das Vorbild zum Märklin-Modell, gab es als 1:87-Miniatur erst 2004 als Metallmodell von Bubmobile. Wiking zog zwei Jahre später mit einem Veteranen nach.
Mit einem solch spannenden Miniaturauto spielten die Kinder in den 50er und 60er Jahren gerne, und gerade ein Muldenkipper eignete sich hervorragend für den Sandkasten. All diese damaligen Kinder, die heute längst groß und stark und alt und grau sind, freuten sich seinerzeit über das Märklin-Original und freuen sich heute über das Märklin-Replikat.
Das Modell wurde einmalig produziert, es wird keine Nachfertigung geben, und es ist für Märklin-Insider-Club-Mitglieder reserviert. Das bedeutet aber nicht, dass engagierte Märklin-Händler es nicht im allgemeinen Verkauf haben. Wer einen Kaelble will, bekommt ihn auch, ohne Clubmitglied zu sein. Er zahlt dann eben ein wenig mehr. Die Kartonbox orientiert sich am historischen Original, ohne es zu kopieren. Sie ist deutlich größer, ein Echtheitszertifikat liegt bei. Übrigens: Auf dem Modell selbst verzichtet Märklin auf den Namen „Kaelble“, auf der Box ist er zu lesen.
afs
Steckbrief:
Märklin 18016 Kaelble KDV832L Muldenkipper 1952 ockergelb (Replikat). Fertigmodell Zinkdruckguss, Maßstab ca. 1:55. UVP 59,99 Euro.