Verschollen und wieder aufgetaucht
Der pink Bentley von Corgi Toys: ein umstritten lackiertes Modellauto in den frühen 70ern. Rund 20 Jahre lang war es für Sammler kaum möglich, eines zu ergattern. Dann tauchten sie alle auf, fast schon inflationär. Wo waren sie, während sie als verschollen galten? Eine Spurensuche in drei Kapiteln mit Vorgeschichte.
Vorgeschichte: Das Mädchenauto
Als ich Anfang der 70er Jahre als kleiner Junge erstmals mit meinen Eltern in England war, war das Angebot in dortigen Spielwarenläden für mich eine Offenbarung. Das Programm von Dinky Toys und Corgi Toys war weit größer, als ich es aus Westdeutschland kannte. Obendrein gab es Hersteller, die nicht nach Deutschland exportierten – zumindest nicht in jenen Teil im Südwesten Deutschlands, der meine Heimat war, den ich kannte und wo mir meine Eltern meine Spielzeugautos kauften. Lonestar Impy-Modelle entdeckte ich auf der Insel erstmals und von den letzten Spot-On-Modellen, die es damals immerhin noch als Ladenhüter gab, war ich schlichtweg begeistert. Meine Begehrlichkeiten wurden so weit erfüllt, als dies die Urlaubskasse zuließ. Zu ihnen gehörte mein erstes, rosafarbenes Miniaturauto: ein damals brandneues Corgi-Toys-Modell, ein Rolls-Royce Silver Shadow Two Door Saloon (der im Original sehr bald in Rolls-Royce Corniche umbenannt werden sollte) in Rosarot. Dass es sich dabei in Wahrheit um eine Bentley-Variante handelte, also den Rolls mit anderem Kühlergrill, erkannte ich erst später, wieder zuhause. Den Rolls-Royce kannte ich, was ein Bentley war, musste mir erst noch erklärt werden. Auf dem Chassis des Modells stand zwar „Bentley“. Aber der kleine Alexander war damals noch nicht des Lesens mächtig. Egal – ich hatte einen rosa Bentley, liebte ihn sehr, sah ihn danach nie im deutschen Spielwarenhandel und keiner meiner Freunde hatte einen. Aber die meisten wollten auch keinen. Er gefiel meinen Freunden nicht. Denn er war rosa. Er war ein „Mädchenauto“.
Erste Kapitel: Der Markt verschmäht den pink Bentley
In den unterschiedlichen Produktlinien hatte Corgi Toys stets ein Flaggschiff, ein Aushängeschild, eine Art Visitenkarte, ein besonders aufwendig gemachtes Modell. Lange war dies der Bentley Continental Sports Saloon mit seiner Achsschenkellenkung, 1968 der Rolls-Royce Silver Shadow Two Door Saloon, nicht nur all open, umlegbare Rücksitzlehnen, galvanisch verchromte Stoßstangen und Grill aus Metall und Strassscheinwerfer, sondern auch „Golden Jacks“. Das waren Hebel an jedem Rad, die man umlegen konnte. Sie fungierten dann als Wagenheber, stützten das Auto ab und das jeweilige Rad war abnehmbar („take-off Wheels“). Ein ungehöriger Gimmick, teuer in der Herstellung und nur kurzlebig. Im Oktober 1971 stellte Corgi den Rolls nach nur siebenmonatiger Produktionszeit auf die vom Markt vorgegebenen und geforderten schnell laufenden Plastikräder um („Whizzwheels“), was eine schwer modifizierte Bodenplatte erforderte. Fast gleichzeitig, im Dezember ’71, schuf Corgi Toys mittels eines anderen Kühlergrills eine Bentley-Version des Wagens, den Bentley Series T Two Door Saloon. Im 1971er Corgi-Katalog ist er in Gelb mit roter Innenausstattung abgebildet mit dem Vermerk „später lieferbar“. Tatsächlich erschien er in Rosarot mit schmaler, schwarzer Coachline an den Flanken und cremefarbenem Interieur mit goldenem Metall-Lenkrad.
Das war er dann, der pink Bentley mit der Corgi-Seriennummer 274, nur knapp zwei Jahre lang bis 1973 Bestandteil des Corgi-Programms, aber nahezu nirgends erhältlich. In Großbritannien anfangs schon, und daher rührte mein Kindheits-Bentley in Pink.
Zweites Kapitel: Die Verschiebung in den Ostblock
Corgi Toys war verhalten zuversichtlich und produzierte 139.000 Exemplare. Diese Zahl stammt von Marcel R. van Cleemput, dem Autor von „The Great Book of Corgi Toys 1956-1983“, 1999 erschienen und für Corgi-Sammler Bibel und Fibel zugleich. Der Autor war in den 60er und 70er Jahren Produktmanager bei Corgi Toys, er kannte die Produktionszahlen. Viele pink Bentley lagerten im walisischen Swansea bei Corgi Toys, aber die Händler orderten nach ihrer Initialbestellung, als die Miniatur brandneu war, nicht nach. Denn das Modell verkaufte sich nicht. Die Jungs mochten die Farbe nicht, für sie war Pink gleichbedeutend mit Mädchenspielzeug. Die Eltern kauften den Bentley auch nicht. Für sie war Pink eine anrüchige Farbe. Die einen konnotierten sie mit Homosexualität, die anderen bezeichneten sie als „Nigger-Pink“. Das darf man heute nicht mehr sagen und schreiben (weshalb es in Anführungszeichen gesetzt ist, um niemanden zu verärgern), war damals aber gang und gäbe und hatte seinen Grund darin, dass die in Europa stationierten, dunkelhäutigen US-Soldaten nicht nur häufig rosa Strickmützen und überhaupt rosa Kleidung trugen (wenn sie keine Uniform anhatten!), sondern auch ihre US-Cars gerne in diesem Farbton lackieren ließen. Pink war also berüchtigt und verrufen in bürgerlichen Kreisen. Und dann auch noch ausgerechnet ein Bentley, neben dem Rolls-Royce das am höchsten angesehene, britische Kulturgut auf vier Rädern! Das war den bürgerlichen, mehrheitlich konservativ eingestellten Eltern zu viel. Sie betrachteten den pink Bentley als Provokation.
Dabei muss man zwischen verschiedenen Rosa-Tönen unterscheiden. Niemand hatte etwas gegen Rosé, auch nicht gegen zartes oder blasses Rosa (Altrosa, die Briten nennen es „Mauve“, also „malvenfarben“), und in diesen Tönen gab es auch Miniaturautos. Aber in dem schrillen, knalligen und krachenden Pink, in dem Corgi Toys seinen Bentley lackierte, gab es, von Hongkong-Spielzeugautos aus Plastik abgesehen, kein anderes, kein seriöses Miniaturauto.
Drittes Kapitel: Die Grenzen öffnen sich, der pink Bentley kommt wieder
Corgi Toys blieb also auf dem pink Bentley sitzen und musste sich selbst eingestehen, mit seinem Mut und seiner Progressivität übers Ziel hinausgeschossen zu sein. Was tun mit -zigtausenden an pinkfarbenen Bentleys, die, völlig unverkäuflich, Lagerkapazitäten beanspruchten? Einstampfen? Das wäre der übelste Umgang damit gewesen. Die Alternative: Wenigstens ein bisschen Geld wollte Corgi Toys damit verdienen, zumindest keinen Totalverlust einfahren.
Britische und auch italienische Spielzeugautohersteller haben in den 70er Jahren gerne ihre Überproduktionen, ihre Fehldispositionen, ihre Auslaufmodelle gegen kleines Geld in den Ostblock verschoben und verscherbelt. DDR-Bürger konnten immer mal wieder Matchbox-Autos kaufen, und in der ČSSR gab es Anfang der 70er Jahre Corgi-Whizzwheels- und Mebetoys-Modelle. Die Ostblockländer nahmen diese „Restbestände“ zum sehr kleinen Preis gerne, konnten sie ihren Kindern dadurch ein wenig internationales Flair bieten, machten ihnen eine Freude und befriedigten auch jene, die über keine Westverwandtschaft verfügten (ein Privileg, das hauptsächlich DDR-Bürger hatten, Tschechen weniger).
Mein Kindheits-Bentley hat nicht überlebt, mein Wunsch nach einem pink Bentley war groß, und wie jeder Sammler, der diesen Wunsch hegte, musste ich in den 80er Jahren viel Geld für mein Exemplar zahlen. Immerhin hatte ich dann einen! Und immer habe ich mich gefragt, wo die ganzen pink Bentley geblieben sein mögen. Die Samtene Revolution und die Grenzöffnung beantworteten die Frage. Schon vor der Grenzöffnung reiste ich als Student einmal im Monat nach Prag zur Modellautotauschbörse in den dortigen Radio-Palast im Stadtteil Vinohrady und setzte dies während der umwälzenden Zeit fort, bis 1991 oder 1992. Danach wurde es uninteressant. Ich musste die Reise nicht mehr auf mich nehmen, denn die Tschechen kamen zu uns nach Deutschland, zuerst in den Nürnberger Raum, dann immer weiter ins Land. Es waren wilde Börsen im Radio-Palast, mit Westgeld konnte man alles kaufen, was die Tschechen untereinander nur im Tausch anboten, und es war sehr erstaunlich, was alles den Weg „nach drüben“ in den Ostblock gefunden hatte – teilweise ganz erlesene Ware! Ich importierte wie ein Weltmeister und finanzierte durch den Weiterverkauf zeitweise mein Studium.
Es gab im Radio-Palast zwischen 1989 und 1991 kaum einen Tisch, auf dem kein pink Bentley angeboten wurde. Er war dort allgegenwärtig! Und alle waren im Neuzustand, jedoch ohne Box. Entweder exportierte Corgi die Autos ohne Schachteln und sie wurden in der ČSSR lose verkauft, oder die Tschechen sammelten zwar Modellautos, aber deren Schachteln entsorgten sie (letzteres ist unwahrscheinlich, ersteres dürfte eher zutreffen). Jedenfalls importierte ich damals bestimmt 15 bis 20 pink Bentley, die ich im Westen anfangs sehr teuer verkaufen konnte, mit zunehmender Zeit immer weniger teuer. Denn erstens war ich nicht der einzige Westdeutsche oder Österreicher auf Prager Börsen zu dieser Zeit und andere taten es mir gleich (es war ein Hauen und Stechen unter den Westlern um die interessanten Modelle auf der Prager Börse, teilweise unter Einsatz von Ellbogen!), zweitens sättigte sich der Markt. Heute dürfte jeder Sammler, der einen möchte, seinen pink Bentley von Corgi Toys haben, und spätestens seit der Jahrtausendwende hat das Modell keinen hohen Preis mehr, sondern reiht sich nahtlos in die Kategorien seiner Art- und Altersgenossen. Eine Momentaufnahme auf Ebay zeigt sechs Angebote, von 45 Euro in sammelwürdigem Zustand ohne Box, die schwarze Coachline etwas abgegriffen, bis zu 100 Euro im Neuzustand mit Box. Die meisten davon werden in Großbritannien angeboten. Die Briten haben wohl bereut, den pink Bentley verschmäht zu haben, als er aktuell war. Auch ich habe die meisten meiner ČSSR-Importe damals auf die Insel verkauft.
afs