Andere Maßstäbe

News 1:32 Märklin Tempo Hanseat Hochpritsche 1950

Herr über drei Räder und 13 ½ Pferde

Spur 1 ist die Traditionsnenngröße von Märklin, die erste Spielzeug-Eisenbahn machten die Göppinger vor 134 Jahren in 1:32. Der Maßstab wird bei Märklin nach wie vor gepflegt, es gibt auch mannigfaches Zubehör, darunter Automodelle. Neu ist der dreirädrige Nachkriegstransporter Tempo Hanseat mit Hochpritsche in auffälligem und nicht zeitgenössischem Orange.

Spur 1, die Märklin-Nenngröße schlechthin. Die erste Märklin Spielzeugeisenbahn mit Uhrwerkantrieb erschien 1891, sie war in der „Spur 1“ gehalten, also Maßstab 1:32, und das blieb in Sachen Spielzeugeisenbahn auch bis in die 30er Jahre hinein das Maß aller Dinge und Spurbreiten – auch wenn zwischenzeitlich Eisenbahnen in kleineren Maßstäben erschienen, so die Trix Expreß ab 1935 in H0 (1:87) und schon zuvor Miniaturbahnen in Spur 0, also Maßstab 1:43. Nach dem Krieg geriet die große Spur I ins Abseits, auch wegen der dann gebauten Neubauwohnungen, die durchaus andere Platzverhältnisse aufwiesen als die gründerzeitlichen Stadthäuser. Ende der 60er Jahre wagte Märklin mit der Spur 1 einen Neuanfang, zunächst als Spielbahn, zehn Jahre später als Modellbahn, und als Märklin 1984 das Schweizer „Krokodil“ in Spur 1 brachte, war die Nenngröße im hochwertigen Modellbahnsektor endgültig wieder etabliert. Heute gibt es in Spur 1 wahre Pretiosen, teilweise handgefertigte Hochpreiserzeugnisse. Beispielhaft seien die Bahnen in Messingbauweise von KM 1 aus Lauingen genannt.

Der Fahrer trägt Schiebermütze

Märklin unterhält ein breites Modellbahnspektrum in dieser Größe, und dazu gehört auch maßstabgerechtes Zubehör, darunter auch Autos. Hochwertige Spur-1-Autominiaturen fertigen hauptsächlich Modellbahnhersteller. Darüber hinaus ist 1:32 auch ein beliebter Maßstab für Plastikbausätze und für Slotcars. Schöne Personenwagen und Nutzfahrzeuge nach historischen Vorbildern fertigen neben Märklin auch KM1 (eine riesige Palette an Opel Rekord P I 1958) und MO-Miniatur (Ford Taunus 17m P2, VW 1600 Stufenheck und Variant, Mercedes 190 SL, Goggo Coupé). Der Tempo Hanseat Hochpritsche von Märklin ist keine Formneuheit, sondern eine Farbvariante. Erstmals erschien das Modell im Herbst 2022 in Rot mit grauer Plane und Märklin-Eigenwerbung, werksseitig ausverkauft.

Nun kommt es in neuer Farbe, Orange, ohne Plane. Eine seltsame Farbe. Dreirad-Lieferwagen aus der frühen Nachkriegszeit hat man in grauen Un-Farben in Erinnerung, nicht in Orange. Aber in zweiter oder dritter Hand konnte auch ein Tempo Hanseat in fröhlichem Orange umlackiert worden sein, und dass die Miniatur keinen Neuwagen darstellt, beweist das Kennzeichen. Als der Tempo zur Welt kam, trugen westdeutsche Autos Besatzungskennzeichen, weiße Schrift auf schwarzem Grund. Der Miniatur-Tempo hingegen hat ein Nummernschild im neuen Stil seit 1956, schwarze Schrift auf weißer Grundplatte, aber schlecht recherchiert. Zwischen den Buchstaben und der Zahl gab es auf deutschen Kennzeichen noch nie einen Bindestrich. Kein Fehler hingegen ist das Nichtvorhandensein der TÜV-Plakette auf dem hinteren Kennzeichen. Die TÜV-Untersuchung ist zwar seit 1951 Pflicht, aber die Plakette auf dem hinteren Nummernschild wurde erst im Januar 1961 eingeführt.

Das Modell ist komplett aus Kunststoff, auch das Chassis, lediglich die Reifen sind aus Gummi. Chassis und Innenraum schwarz durchgefärbtes Plastik, Karosserie seidenmatt lackiert, die angegossenen Zierteile (Türgriffe, Haubenzierleiste, Tempo-Logo im Grill) sind gesilbert, die Scheibengummis mattschwarze Druckwerke. Scheinwerfer, Außenspiegel und Scheibenwischer sind separate Bauteile, am Steuer sitzt ein dicklicher Mann mit Schiebermütze, was ihn als typischen Vertreter des Proletariats definiert. Mit bemerkenswertem Aufwand gemacht ist das Fahrgestell: Obgleich an einem Dreirad wirklich nicht viel dran ist, ist dieses Wenige sehr detailliert und vorbildlich umgesetzt: Vom Motörchen sieht man nichts, weil es durch das vordere Einzelrad verdeckt wird, aber prominent nachgebildet ist dessen Kettenkasten (als Träger des Rades). Nach hinten erstreckt sich der Zentralrohrrahmen mit zwei Querträgern und anschleißend, sehr hübsch gemacht, die Pendel-Schwingachse mit ihren beiden „echten“ Schraubenfedern. Das Modell ist also hinten gefedert.

Tempo oder Goliath? Eine Glaubenfrage

Im frühen Nachkriegsdeutschland setzte sich die Tradition der Lieferdreiräder fort, die bereits Mitte der 20er Jahre en vogue gekommen waren. Die beiden wesentlichen Anbieter waren der Bremer Borgward-Konzern, der die Dreiräder seiner Marke Goliath zuschrieb, und die Tempo-Wagen von Vidal & Sohn in Hamburg-Harburg. Das Werk blieb von Kriegsschäden verschont und konnte bereits im Juli 1945 die Produktion wieder aufnehmen. In den geldknappen Jahren vor der Währungsreform 1948 machte Vidal & Sohn damit ein Bombengeschäft, danach setzten sich mehr und mehr Vierrad-Lieferwagen durch, das Dreirad blieb das Vehikel für den „armen Handwerker“. Noch während der Hanseat gebaut wurde, 1955, übertrug Oscar Vidal 50 Prozent seines Unternehmens der Hanomag, zehn Jahre später ging es ganz in das Eigentum von Rheinstahl-Hanomag. Über Umwege (Hanomag-Henschel) wurde Daimler-Benz der Besitzer, und noch heute ist das ehemalige Tempo-Werk in Hamburg-Harburg voll in den Verbund der Daimler-Benz-Werke eingegliedert.

Ob der Gewerbetreibende zum Goliath oder zum Tempo griff, war eine Glaubensfrage. Denn so gleich die Lieferdreiräder von außen aussahen, so unterschiedlich war ihre Konzeption: Der Tempo mit Antrieb über das vordere Einzelrad, der Goliath mit Heckantrieb via Kardanwelle. „Hanseat“ ist nur eine neue Bezeichnung für den Tempo A 400 in besserer Ausstattung und Verarbeitung sowie mit abgerundeten Kanten an der Motorhaube ab Ende 1949, 1950 wurde er technisch schwer überarbeitet: Ilo-Zweizylinder-Flachkolben-Zweitakter mit Umkehrspülung und 13,5 PS aus 397 cm³ Hubraum, Vier- statt Dreigang-Getriebe, stärkere Antriebsketten, vorderer Stoßdämpfer, neue Hinterachse. Weitere Stationen der Entwicklung: 1953 zusätzlich stärkerer 400-ccm³-Motor mit 25 PS von Heinkel, 1954 hydraulische Bremsen statt Seilzug, 1956 Verkaufsstopp in Westdeutschland, Fortsetzung der Produktion für den Export nach Indien bis Ende 1961, danach Verlagerung der Produktionsanlagen nach Poona/Indien, wo das alte Tempo-Dreirad als Rikscha tatsächlich bis ins Jahr 2010 produziert wurde. Den deutschen Tempo-Dreirädern und somit dem Märklin-Modell sieht man seine Evolution von außen nicht an, optisch unveränderte Produktion zwischen 1950 und 1956. 41.366 Tempo Hanseat Dreiräder mit Pritschenaufbau wurden in Hamburg gebaut, dazu 2065 mit Kombi-Aufbau – ein typischer Vertreter der „schlechten Zeit“ direkt nach dem Krieg und der Phase, bevor das Wirtschaftswunder so richtig griff.

afs

Aufwendig gefertigtes Tempo-Dreirad aus Kunststoff, die Karosserie in Seidenmatt lackiert. Aber warum trägt das Fahrzeug Orange? Die Vorbilder waren Grau und Beige, aber doch nicht knallig lackiert.
Modellfotos: bat
Männeken mit Schiebermütze: Herr über 13 ½ Pferdestärken und drei Räder. Sehr realistisch gemacht, die linke Hand am Steuer, mit der rechten greift er beherzt zur Krückstockschaltung.
Sehr einfaches Fahrgestell, von Märklin hervorragend nachgebildet. Das Rohr vom Fahrerhaus zur Hinterachse ist mitnichten die Kardanwelle (gibt’s nicht, weil Frontantrieb), sondern das Rückgrat des Lieferwagens, also der Zentralrohrrahmen.
Gefedert mit echten Federn, also Schraubenfedern. In Zeiten, als hintere Starrachsen an Blattfedern Standard waren, war dies sehr modern.
Tempo Hanseat Hochpritsche von 1950. Die Hochpritsche ist oberhalb der Hinterräder situiert. Das macht sie breit, aber die Ladung muss hoch gewuchtet werden. Die Tiefpritsche sitzt zwischen den Hinterrädern, ist beladungsfreundlicher, aber eben schmaler.
Foto: Archiv afs
Mit Girlande geschmückt: Festakt bei Vidal & Sohn in Hamburg-Harburg am 24. Februar 1952 anlässlich des 100.000sten Tempo-Dreirades. Das Jubelmodell trägt, im Gegensatz zur Märklin-Miniatur, eine Tiefpritsche.
Foto: Archiv afs

Steckbrief:

Märklin 18452 Tempo Hanseat Hochpritsche 1950. Fertigmodell Kunststoff, Maßstab 1:32. UVP 44,99 Euro.